Prozessrisikoanalyse

Neuerscheinung: Prozessrisikoanalyse von Risse/Morawietz

Sollten Rechtsanwälte rechnen können? Ein neues Buch von Jörg Risse und Matthias Morawietz erläutert Chancen und Grenzen der Prozessrisikoanalyse für die anwaltliche Mandatsarbeit.

Prozessrisikoanalyse: Vier Schritte zur Prognose der Erfolgsaussichten

Was ist eine Prozessrisikoanalyse? Im Kern handelt es sich um eine strukturierte Bewertung der Erfolgschancen vor Gericht. Eine klassische Prozessrisikoanalyse läuft in vier Schritten ab:

  1. Zunächst identifiziert man alle für den konkreten Fall relevanten Tatsachen- und Rechtsfragen. Das sind in der Regel die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs, aber auch prozessuale Fragen, z.B. zur Zulässigkeit einer Klage, zur Beweisführung oder zur Präklusion.
  2. Anschließend sucht man für jede einzelne dieser Tatsachen- und Rechtsfragen die Erfolgswahrscheinlichkeit. Hier geht es beispielsweise um die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Gericht ein Anfechtungsrecht bejahen würde oder mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Zeuge günstig aussagt. Während die juristische Perspektive bei solchen Fragen zu einer Ja- oder Nein-Entscheidung tendiert, denken Ökonomen und mit ihnen die Prozessrisikoanalyse in Wahrscheinlichkeiten. Beispiel: Wenn man 100 gleichgelagerte Fälle durchspielt und das Urteil in 80 dieser Fälle günstig ausfällt, beträgt die Erfolgswahrscheinlichkeit zu dieser Rechtsfrage 80%.
  3. Im Anschluss an die Zuweisung von Erfolgswahrscheinlichkeiten zu den fallerheblichen Tatsachen- und Rechtsfragen multipliziert man die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten für die günstige Entscheidung miteinander. Hat man zum Beispiel drei fallerhebliche Rechtsfragen identifiziert und die Erfolgswahrscheinlichkeit jeweils mit 80% eingeschätzt, lautet die Rechnung 80% * 80% * 80% = 51,2%. Das bedeutet: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 51,2% wird man den Rechtsstreit gewinnen. Die Chancen stehen kaum mehr als 50:50. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass jede einzelne Rechtsfrage mit großer Wahrscheinlichkeit zu den eigenen Gunsten entschieden wird.
  4. Im vierten und letzten Schritt errechnet man den Wert des Rechtsstreits, indem man die gefundene Erfolgschance mit dem geltend gemachten Anspruch multipliziert. Ginge es im obigen Fall um 1 Million Euro, so ergäbe sich ein Fallwert von 512.000 Euro. Mehr ist der Anspruch nicht wert. Anders gewendet: Macht der Gegner ein Vergleichsangebot von 600.000 Euro, ist man in der Regel gut beraten, dankend anzunehmen.

Prozessrisikoanalyse: Unternehmerisch denken im Sinne der Mandanten

Das Ergebnis einer Prozessrisikoanalyse ist eine konkrete Zahl. Die natürlich von den Risikoeinschätzungen bei den einzelnen Rechts- und Tatsachenfragen abhängt. Eine häufig artikulierte Kritik lautet, dass die Prozessrisikoanalyse insofern eine Genauigkeit suggeriere, die tatsächlich nicht bestehe. Indes: Wenn die Alternative das Bauchgefühl des Rechtsanwalts ist, wird eine etwas strukturiertere Betrachtung doch in der Regel eine realistischere Einschätzung der Prozessrisiken ermöglichen. Natürlich ist das kompliziert: Eine realistische Prozessrisikoanalyse wird regelmäßig nicht nur drei, sondern eher dreißig entscheidungsrelevante Fragen identifizieren, die alle einzeln bepreist werden müssen. Diese Mühe ist aber im Sinne der Mandantschaft, die im Zweifel nicht prozessieren möchte, wenn der Erwartungswert eines außergerichtlichen Vorgehens höher ist. Nicht zuletzt deswegen gehört eine gründliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen ohnehin zu den Pflichten aus dem anwaltlichen Mandatsvertrag.

Risse und Morawietz erläutern Technik und konkrete Fallstudien

In ihrem Buch erläutern Jörg Risse und Matthias Morawietz diese Technik der Prozessrisikoanalyse sehr detailliert. Anhand eines Beispielsfalls zeigen sie, wie man den Entscheidungsbaum hinter einer Risikoanalyse baut, wie man Risiken konkret berechnet und welche Softwarehilfen sich dafür eignen. Darauf folgt eine Reihe von Fallstudien, die unter anderem Beispiele aus der Prozessfinanzierung, der Mediation und dem Schiedsverfahren enthalten. Insgesamt erscheint das Buch als ein klug strukturierter und gut lesbarer Ratgeber, der jedem Praktiker nachdrücklich zu empfehlen ist. Da Werk ist im Versandhandel zum Preis von 45 € erhältlich.