Nach dem kurzfristig digitalen Sommersemester 2020 hatten Studierende und Lehrende allerorten auf ein Wintersemester mit viel Präsenzlehre gehofft. Daraus wird leider wenig: Die meisten Universitäten sehen auch im Winter 2020/21 keine Alternative zur virtuellen Lehre. Gleichzeitig wächst auch die Bedeutung anderer digitaler Studienformate. Wir haben uns mit dem Gründer der Jura-Lern-App Jurafuchs unterhalten. Christian Leupold-Wendling hat seine Großkanzlei-Anwaltsrobe an den Nagel gehängt, um diese App auszufuchsen. Hier sind unsere Fragen und seine Antworten.
Christian, Du hast einen vielseitigen Lebenslauf: Erst Anwalt bei Hengeler, dann Gründer von Jurafuchs. Ist das ein Aufstieg oder ein Abstieg?
Christian Leupold-Wendling: Vielen Dank für das Lob! Zunächst einmal ist es für mich persönlich ein Fortschritt, weil es der nächste logische Karriereschritt ist. Ich habe als Student ja schon einmal gegründet, und zwar den deutschen Ableger einer internationalen Menschenrechtsorganisation (IJM Deutschland e.V.). Gründen ist meine Leidenschaft. Ich liebe aber auch juristisches Arbeiten und juristische Bildung. Es passt also alles gut zueinander und ich profitiere bei Jurafuchs auch enorm von meiner Ausbildung bei Hengeler Mueller. Insbesondere Legal Writing ist etwas, wofür es meines Erachtens eine Schule geben sollte. Ich hatte das Glück, bei Hengeler Mueller bei den Veteranen Henning Bälz und Wolfang Spoerr lernen zu dürfen. Das ist meines Erachtens eine der anspruchsvollsten Schulen, die man durchlaufen kann.
Was ich bei Hengeler sehr geschätzt habe: Die Lernkurve war sehr steil. Es ist ein sehr inspirierendes und anspruchsvolles Umfeld. Das ist bei Jurafuchs ähnlich, nur in anderen Disziplinen. In den letzten zweieinhalb Jahren habe ich mich sehr stark weitergebildet in Sachen digitales Marketing, Produktentwicklung (UX), Fundraising, Recruiting usw. Ich genieße sehr die Vielseitigkeit meiner Tätigkeit bei Jurafuchs. Was die zur Verfügung stehenden Ressourcen angeht, war es natürlich zunächst ein Rückschritt. Was die persönliche Freiheit und den Grad der Fremdsteuerung angeht, ist es wiederum ein enormer Fortschritt. Persönlich könnte ich mit der Arbeitssituation derzeit nicht glücklicher sein.
Nach einem gewissen Testlauf kostet die Jurafuchs-App Geld. Warum ist das für Jurastudierende eine gute Investition?
Christian Leupold-Wendling: Bildung ist fast immer eine gute Investition. Dafür brauchen wir glaube ich keine Werbung zu machen. Die Frage ist aber natürlich: Was bringt mir Jurafuchs im Jurastudium und ist es verglichen mit anderen Lernmitteln eine gute finanzielle und zeitliche Investition? Unsere Antwort: Es bringt sehr viel, der zeitliche Aufwand lässt sich stets den individuellen Bedürfnissen anpassen, und es ist sehr günstig.
Unsere Abos starten aktuell bei € 5,99 im Monat. Dafür bekommen die Studierenden anspruchsvolle Fälle – mittlerweile über 10.000 Fragen –, aktuelle examensrelevante Rechtsprechung aus allen Rechtsgebieten, Hilfe auf der Motivationsseite und ein hochwertig moderiertes Forum. Welchen Lernwert Jurafuchs hat, zeigt sich wahrscheinlich nirgendwo besser, als auf unserer Streak-Rangliste: Niemand lernt über 745 Tage in Folge mit einer App, die nicht liefert. Tatsächlich ist es so, dass Jurafuchs einzigartig ist und es auch derzeit nichts Vergleichbares gibt. Wir sind davon überzeugt, dass wir mit unserem Vierklang Apps, Microlearning, Gamification & Community Neuland in der juristischen Ausbildung beschreiten, das bei den Studierenden sehr gut ankommt.
Übrigens: Wir haben nichts dagegen, wenn die Universitäten die Lizenzgebühren übernehmen, so dass die Studierenden Jurafuchs kostenlos nutzen können. Wir haben in der Corona-Krise für drei Monate sogar rund der Hälfte der deutschen Fakultäten kostenlose Campus-Lizenzen für alle Studierenden zur Verfügung gestellt. Allerdings fast überwiegend auf ausdrücklichen Wunsch der Fachschaften. Die Fakultäten setzten sich da deutlich weniger für ihre Studierenden ein. Es ist eine immer noch weit verbreitete Auffassung, dass Universitäten für den Erwerb digitaler Lernmittel „nicht zuständig“ wären. Auch von dem fehlgeleiteten Mantra, dass Universitäten „keine kommerziellen privaten Lernangebote“ unterstützten, können sich viele bislang nicht lösen. Dabei scheint es kein Störgefühl auszulösen, dass im Print-Bereich andere Regeln gelten und Universitäten selbstverständlich die gängigen Produkte großer Verlage beziehen, die ein privates Gewinninteresse haben. Schließlich gibt es ganz profan enorme Berührungsängste der älteren Generation mit dem Medium Apps. Wir sind aber überzeugt, dass die Vorzüge von digitalen Lernmedien sich durchsetzen werden. Gerade der Vergleich zum Lehrbuch zeigt, dass die Erkenntnis- und Reaktionsmöglichkeiten einer Redaktion auf die inhaltlichen Bedürfnisse der Studierenden über eine App deutlich präziser und agiler sind als etwa bei einem dicken Jura-Wälzer.
Was bringt Microlearning für Macroexamina?
Christian Leupold-Wendling: Microlearning ist ein schillernder Begriff, dem unterschiedliche Bedeutungen beigelegt werden können. Wir verstehen darunter: Lernen in kurzen Schritten und kleinen Einheiten, sofortige Rückkopplung, d.h. Kontrolle des Lernerfolgs, und eingebaute Wiederholungen. Zur Effektivität von Microlearning beim Sprachenlernen gibt es zwei große, aussagekräftige Studien: Nach einer Studie von Wissenschaftlern der City University of New York und der University of South Carolina aus dem Jahr 2012 brauchten Duolingo-Nutzer im Schnitt 34 Stunden mit der Sprachlern-App, um sich den Lernstoff eines Studiensemesters anzueignen. Mit Babbel benötigten Nutzer dafür sogar nur 21 Stunden, wie die gleichen Forscher 2016 herausfanden. Wir denken, dass sich dieser Erfolg im Sprachenlernen auf das Jurastudium übertragen lässt.
Was wir nicht unter Microlearning verstehen: beschränkte Themen und einfache Aufgaben. Unseres Erachtens benötigt man für das Erste und Zweite Juristische Staatsexamen eine gehörige Portion Grundwissen, viel Übung in juristischer Fall-Lösungs-Technik, einen guten Überblick in Form von Strukturwissen und im besten Fall verfolgt man noch die aktuelle Rechtsprechung zumindest überblicksartig. All das bilden wir in unserer App ab. Anfangs mit einem klaren Fokus auf Rechtsprechung und Fall-Lösungen. Zunehmend aber auch mit Struktur- und Überblickswissen in Form von Gruppierungsaufgaben und Aufgaben zu Reihenfolgen und Hierarchien. Weitere Formen der Wissens- und Verständnisvermittlung sind bereits in Arbeit. Die in der Jurafuchs App besprochenen Themen reichen inhaltlich von der Kausalität im Strafrecht und den Bestandteilen einer Willenserklärung über den Geheißerwerb im Sachenrecht, das Gesamthandseigentum als „ein die Veräußerung hinderndes Recht“ im Rahmen der Zwangsvollstreckung bis hin zur Entscheidung des BVerfG zum Kopftuchverbot für Referendarinnen.
Ergänzend zu unseren Inhalten, lernen unsere Nutzerinnen im Dialog miteinander. Wir sehen Community als ganz entscheidende Dimension, den individuellen Lernfortschritt zu beschleunigen. Einerseits können wir nicht alle Fragen antizipieren, die bei unseren Nutzerinnen entstehen, wenn sie unsere Aufgaben lösen. D.h. egal wie gut unsere Erklärungstexte geschrieben sind: Es wird immer Fragen geben, die sie nicht beantworten. Andererseits ist die Beantwortung der konkreten Fragen der Nutzer der sicherste Weg, etwaige Irrtümer auszuräumen und das juristische Gedankengebäude bei unseren Nutzern zu komplettieren. Deshalb haben wir zu jeder Aufgabe ein eigenes Forum eingerichtet und moderieren fortlaufend alle neuen Threads. Unsere Community und unsere Moderatoren haben bereits über 80% aller Fragen beantwortet.
Übrigens sehen wir Jurafuchs nicht allein als Tool zur Examensvorbereitung. Unser Anspruch ist deutlich breiter: Wir wollen umfassende juristische Bildung ermöglichen. Natürlich liegt der Fokus weiterhin auf der Fall-Lösung und dem examensrelevanten Kernstoff. Wir haben aber ergänzend vor Kurzem damit begonnen, häufig vernachlässigte Grundlagenfächer wie Rechtsgeschichte, Rechtstheorie & Methodenlehre zu besprechen. Zudem machen wir gerade eine Reihe von Experimenten mit Zusatzqualifikationen, wie z.B. Mathematik & Statistik für Juristen.
Was hat sich nach Eurer Wahrnehmung in der Corona-Krise am Lernverhalten von Jurastudierenden geändert?
Christian Leupold-Wendling: Wir beobachten nur einen Teil des Lernverhaltens von Jurastudierenden. In diesem Rahmen haben wir qualitativ und quantitativ gemessen, dass die Studierenden einen deutlich gesteigerten Bedarf an unseren Apps, an einer Hilfestellung in Sachen Motivation und am Austausch haben. Konkret haben sich die Anzahl der zahlenden Nutzer und der Umsatz etwa verdreifacht seit Ausbruch der Corona-Krise. Die Anzahl der beantworteten Fragen pro Nutzer hat sich verdoppelt, die tägliche durchschnittliche Verweildauer in der App hat sich um 20% gesteigert.
All das freut uns natürlich sehr und es ist sicher auch nicht nur auf Corona zurückzuführen. Wir sind als Startup unabhängig davon in einer rasanten Wachstumsphase. Seit Ausbruch der Corona-Krise fühlen wir uns aber auch mitverantwortlich, dass die Studierenden in dieser Situation nicht alleingelassen werden und trotz erschwerten Bedingungen im Stoff vorankommen. Wir haben deshalb in dieser Phase auch geliefert: Insbesondere haben wir die Anzahl der neuen Aufgaben, die wir monatlich in die Jurafuchs App laden, verdreifacht. Entscheidend dafür sind unsere exzellenten wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen, die die Freude an Jura mit der Begeisterung für Jurafuchs und der Digitalisierung des juristischen Lernens verbinden. Und wir bekommen dauerhaft hervorragende Bewerbungen und bemühen uns, so vielen wie möglich einen Job zu geben.
Sind Apps das neue Repetitorium? Wie sieht das Jurastudium der Zukunft aus?
Christian Leupold-Wendling: Apps sind ein wesentlicher Teil der Zukunft des juristischen Lernens. Wir haben dazu letztes Jahr unsere Gedanken einmal aufgeschrieben und in der RI (Recht Innovativ) veröffentlicht. Es gibt (neben zahlreichen kleinen) vier große Innovationen für juristische Bildung, die in Jurafuchs stecken: Apps, Microlearning, Gamification & Community. Jurafuchs hilft dabei, das Selbststudium zu erleichtern, die Motivation beim Lernen aufrechtzuerhalten, und bietet eine hochwertige Diskussionsplattform.
Präsenzunterricht wird dadurch keinesfalls abgelöst – ob an der Uni oder im Rahmen von Repetitorien. Wir glauben an die Vision des „Flipped Classroom“, d.h. dass Hausaufgaben und die Stoffvermittlung vertauscht werden, so dass die Lerninhalte zu Hause von den Lernenden erarbeitet werden und die Anwendung und Klärung von Fragen im Unterricht erfolgt. Dies befreit die Präsenzphase von der Last der Vermittlung umfangreichen Faktenwissens und fördert die Wissensanwendung. Dies ist gerade für Jura unerlässlich und kommt nach unserem Dafürhalten in der klassischen Ausbildung deutlich zu kurz. Zudem wissen die Lehrenden im Optimalfall, mit welchem Wissensstand, welchem Vorwissen und welchen Schwierigkeiten ihre Studierenden in die Vorlesung kommen. Ich habe das selbst erlebt während meines LL.M.-Studiums in Cambridge: Eine sehr umfangreiche und zielgerichtete Vorbereitung auf Seiten der Studierenden verändert die Dynamik im Unterricht. Es werden viel mehr gute Fragen gestellt, Vorlesungen sind mehr Dialog als Monolog. Die Studierenden können ihr eigenes Wissen anwenden und Identifikation im Umgang mit ihrem Fach entwickeln. Und sie haben auch mehr Spaß an den Vorlesungen.
Herzlichen Dank für Deine aufschlussreichen Antworten! Dir und dem Jurafuchs weiterhin viel Erfolg!
Disclaimer: Dieses nicht-kommerzielle Interview kam aus reiner Neugier und auf Initiative des Interviewers zustande.